Wer im Gesundheitswesen arbeitet, der wird über kurz oder lang mit allen nur erdenklichen Obszönitäten, die ein Menschenleben zu bieten hat, konfrontiert. „Ui, wie spannend!“ sagen dazu meist fachfremde Bekanntschaften
„Bah, das ist ja abartig! Besorg dir mal Therapie!“, meine engsten
Freunde. Ich bin froh, dass ich mein Geld nicht damit verdienen muss, alten
Leuten ihr Wohngeld zu kürzen. DAS finde ich abartig.
Mein typischer Arbeitstag sieht dann ungefähr so aus:
Patient marschiert in die Praxis, setzt sich auf die
Therapieliege und beginnt, sich in aller Seelenruhe die Hose auszuziehen. Es
gehört zu den Qualitäten eines guten Therapeuten, in solchen Momenten nicht
sofort einzugreifen, sondern Ziel und Sinn der Handlung beim Patienten zu erkennen.
Doch auch nach der lautstarken Aufforderung „Wir können anfangen!“, seitens des Patienten erkenne ich gar nichts.
Ich berufe mich auf die Basics „Wer sind sie und was machen
sie halb nackt in meiner Therapie?“
“Ich bin Günther und ich habe wirklich fiesen Fußpilz (er
wackelt mit dem großen Zeh, links) …sind wir hier nicht bei der Thai-Massage inklusive
Fußbehandlung für 9.99€?“
„Nein, die ist eins höher“, gebe ich trocken zurück.
„Oh“.
Der Patient zieht sich wieder an und ich überlege, ob es etwas
helfen würde unser Praxisschild zusätzlich zur extragroßen,
sehbehindertenfreundlichen Beschriftung in A1 auch noch in Neonfarben zu
illuminieren.
Meine weiteren Patienten sind ein Kind, das sich „Motherfucker!“
brüllend bäuchlings von der Sprossenwand stürzt, ein Doktor a.D. der mich
sowohl mit hereditärer Makuladegeneration als auch mit Bluthochdruck diagnostiziert
(ich habe wohl sehr warme Hände) und ein Herr mit halber Hüfte (das lasse ich
jetzt einfach mal so stehen).
Raucherpause. Ein Typ im Rolli bietet mir Gras an. Ich lehne
dankend ab. Noch ist nicht die Zeit.
Der nächste Patient hat Arthrose und einen sehr niedlichen
Dackel, von dem er mir auch gleich ein Paar Bilder zeigen muss. „Schauen Sie
mal, da sitzt er in seinem Körbchen. Ist er nicht süß?“
Er ist wirklich sehr süß.
„Wenn nur die Hundesteuer nicht wäre. 300€ musste ich
letztes Jahr zahlen! Der tut doch keinem was!“ echauffiert er sich. Leichtes
pulsieren der Halsschlagader.
Ich traktiere seinen Daumen. „Das ist wirklich viel Geld,
und dabei ist er nicht einmal ein Kampfhund…“
Unsere Sekretärin klopft an „Draußen ist ein Günter“,
flüstert sie „er meint…“ „Eins höher“
„Entschuldigen Sie, wo waren wir?“
Die Halsschlagader pulsiert etwas stärker.: „Genau! Unser Land ist einfach korrupt. Kein Geld für die
eigenen Bürger…“
Sozialstaat am Arsch, kann ich mitgehen.
„…überall nur Ausländer…“
In Berlin gibt es viele Schwaben, hat er schon recht.
„…überwacht werden wir auch alle…“
Langsam wird es mir zu heikel. Der Patient ist inzwischen Puterrot. Ich hole gerade Atem, da
fällt er mir ins Wort:
„…und deswegen bin ich Reichsbürger. Und bei den Zeugen
Jehovas. Der Kirche kann man auch nicht mehr trauen.“
Wie bitte? Eine Sekte kann ich noch verstehen. Passiert den
Besten unter uns. Aber gleich zwei? Und schließen sich Neonazismus und
Theokratie nicht irgendwie aus?
Er muss mein entsetztes Augenbrauenzucken bemerkt haben: „Darf
ich ihnen was zu lesen mitgeben“
Mit der Hand, die ich nicht gerade therapeutisch umklammere,
zieht er ein paar Flyer aus seiner Westentasche.
„NEIN!“, möchte ich rufen, da bin
ich schon um ein halbes Kilo Lesestoff reicher.
„Wir sehen uns nächste Woche!“, ruft mir Jehovas Dackelbesitzer im Hinausgehen zu.
Jetzt kann ich das Gras
wirklich brauchen.
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